Luftkrieg: Coventry
"Rüstungszentrum Coventry zerschlagen"
Die Zeitungsschlagzeile links ist eine Falschmeldung. Durch die Luftangriffe der deutschen Luftwaffe in der Nacht des 14/15.11.1940 sind nicht etwa die Rüstungsbetriebe in Coventry ein für alle Mal zerstört worden, sondern vor allem zahlreiche Gebäude in der Innenstadt, darunter die Kathedrale.
Mehr als 550 Menschen starben bei diesem Angriff, ca. 70 000 Wohnungen wurden zerstört. Die Rüstungsbetriebe haben nach fünf bis sechs Wochen ihre volle Kapazität wieder erreicht, die Innenstadt lag nach wie vor in Trümmern (vgl. etwa Janusz Piekalkiewicz, Luftkrieg 1933-1945, S. 113).
Es leuchtet ein, dass die Nazis sehr daran interessiert waren, die Rüstungsbetriebe ihrer Feinde zu zerstören. Daraus darf man aber nicht schließen, dass die Terrorisierung der Zivilbevölkerung nicht auch in ihrer Absicht gelegen hätte.
Hitler-Apologeten mögen hier einwenden, es habe sich um ein Versehen gehandelt, und sie mögen die üblichen Ausreden vorbringen, in denen von schlechter Sicht, unglücklichen Kursabweichungen, ungünstigen Windverhältnissen und so weiter die Rede ist.
Apologetisch zitiert auch die Barnes Review im Februar 1995 Philipp Knightley, der meinte, Coventry sei "in Wirklichkeit ein rechtmäßiges militärisches Ziel" gewesen, und geht gleich danach noch einen Schritt weiter: Die Briten hätten den "Enigma-Code" geknackt und vom drohenden Angriff auf Coventry gewusst. Angeblich verhinderte Churchill "das Abfangen des Luftwaffenangriffs, weil er befürchtete, daß das den Deutschen verraten würde, daß ihr Signalschlüssel entziffert worden war."
Letzteres hätte ich wirklich gern genauer nachgelesen. Leider verzichtet die Barnes Review hier auf jegliche Quellenangabe.
Johannes Heyne wiederholt diese Behauptung, ebenfalls ohne Quellenangabe, in seinen Beitrag "Der wahre Brand", Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung, Juli 2004.
Zu den Herausgebern und Mitarbeitern dieser "revisionistischen" Zeitschrift zählen übrigens Germar Rudolf, Carlo Mattogno und Jürgen Graf, die in Bezug auf den Holocaust gern "forensische Beweise" verlangen.
Interessanterweise bewertet der "Revisionist" David Irving den Angriff auf Coventry als "Symbol der Unmenschlichkeit" (Von Guernica bis Vietnam, S. 57), ohne Churchill und Enigma zu erwähnen.
In Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1979/3, räumt Jürgen Rowher mit verschiedenen unzutreffenden Darstellungen auf:
Doch war die Wirklichkeit auch hier vielschichtiger, als es die vielfach kolportierte Sensationsstory berichtet, Churchill habe eine rechtzeitige Warnung vor dem deutschen Angriff auf Coventry erhalten, die Stadt jedoch nicht warnen oder räumen lassen, um das lebenswichtige Geheimnis "Enigma/Ultra" nicht preiszugeben.
In den folgenden Abschnitten erklärt er, auf der britischen Seite habe es Missverständnisse und Fehleinschätzungen gegeben.
Tatsächlich also war zwar Coventry als eine Zielangabe unter anderen in der Intelligence aufgetreten, doch hatte die den operativen und taktischen Entscheidungen zugrundeliegende Interpretation bis zum Nachmittag des 14. 11. Ziele im Raume London für wahrscheinlicher gehalten, sodaß Churchill sogar eine angetretene Reise abbrach und in London blieb. Als dann kurz nach 15.00 Uhr die Erfassung der sich über Coventry kreuzenden Leitstrahlen durch ein Spezialflugzeug Klarheit brachte, leitete man die vorbereitete Gegenoperation "Cold Water" ein (...)
Hier erfahren wir also zweierlei: Erstens hat Churchill das Abfangen der deutschen Flugzeuge nicht vorsätzlich unterbunden, und zweitens gab es in der Tat Gegenmaßnahmen, sobald klar war, dass ein Angriff auf Coventry bevorstand.
Die Quellen für die "vielfach kolportierte Sensationsstory" waren offenbar F.W. Winterbotham, The Ultra Secret, London 1974, und A.C. Brown, Bodyguard of Lies, New York 1975.
Der Große Wendig bezieht sich - etwas einschränkend und vorsichtig - auf Winterbothams Buch, vergisst aber völlig, Jürgen Rowhers vier Jahre später erschienenen Aufsatz zu rezipieren (Band 1, S. 837). Für ein "revisionistisches" Werk ist das freilich nicht weiter verwunderlich.
Wenige Zeilen weiter folgt ein Bezug auf Luftkrieg 1933-1945, S. 133, von Janusz Piekalkiewicz, der meint, die Toten in Coventry seien der Preis für die Wahrung des Geheimnisses gewesen. Ob Churchill tatsächlich aus diesem Grund gehandelt hat, belegt Piekalkiewicz nicht; er formuliert hier offenbar nur seine eigene Einschätzung.
Der Bezug auf Piekalkiewicz zeigt, wie manipulativ und apologetisch Der Große Wendig vorgeht. Einerseits macht er sich die Einschätzung des polnischen Historikers zu eigen. Andererseits zitiert er unmittelbar vorher einen anderen Autor:
W. GÖRLITZ nennt [für Coventry] 380 Tote und 800 Schwerverletzte.
Der Wendig benutzt hier nicht die Zahlen, die der offenbar doch vertrauenswürdige Piekalkiewicz an genau dieser Stelle nennt. Das ist ein durchaus "revisionistisches" Manöver, das aber angesichts der Herausgeberschaft - beim Wendig hat u.a. der Holocaustleugner Claus Nordbruch mitgewirkt - nicht weiter verwundert. Anscheinend sind die Zahlen bei Piekalkiewicz ("revisionistisch" gefühlt) zu hoch, denn dort heißt es:
(...) 554 tote und 865 verletzte Einwohner von Coventry.
Auf deutscher Seite fand man die zivilen Opfer und Schäden in Coventry im Übrigen keineswegs bedauerlich. Vielmehr war in der deutschen Propaganda die Drohung zu hören, man werde ganz England "coventrieren".
Die Nazis haben also, mit anderen Worten, den Angriff auf die Zivilbevölkerung der Stadt ausdrücklich gebilligt und verkündet, sie würden etwas Ähnliches in anderen Städten wiederholen.