Zweierlei Maß

War Stalin ein Massenmörder?

Was für eine Frage, natürlich war er das. Dies ist vermutlich einer der wenigen Punkte, bei denen zwischen mir und den "Revisionisten" sofort Einigkeit besteht.

Aber woher wissen wir das?

Wir (damit meine ich jetzt alle vernünftigen Leute und nicht die "Revisionisten") wissen das aus der seriösen historischen Forschung. Dummerweise - für die Holocaustleugner - ist das genau die Geschichtswissenschaft, der sie in Bezug auf den Judenmord, die Kriegsschuldfrage und einige andere Dinge prinzipiell nicht über den Weg trauen. Auf diese vermeintlich so unzuverlässigen Quellen dürften sie sich also eigentlich nicht berufen.

Aber woher wissen die "Revisionisten" denn sonst, dass Stalin ein Massenmörder war? Nein, das ist nicht offensichtlich. "Offenkundigkeit" zählt nicht, jedenfalls nicht für Holocaustleugner:

Schließlich muß verwundern, daß sich diese Wissenschaftler des Instituts für Zeitgeschichte hinter der juristischen Formel der "Offenkundigkeit" verbergen, obwohl ihnen klar sein müßte, daß es eine solche Formel in der Wissenschaft nicht gibt und auch niemals geben kann.

Germar Rudolf, Kardinalfragen an Deutschlands Politiker, S. 83

Eine rasche Sichtung "revisionistischer" Texte zeigt, dass Stalins Verbrechen einfach als gegeben angenommen werden, gewissermaßen als offenkundig. Womöglich hat das, was Germar Rudolf und seine Kollegen schreiben, einen eher begrenzten Einfluss auf das, was Germar Rudolf und seine Kollegen so tun.

Der bei "Revisionisten" durchaus beliebte Viktor Suworow wirft jedenfalls Stalin in Der Eisbrecher auf den Seiten 42 und 81 millionenfache Morde vor – einfach so, ganz ohne jeden Beleg.

Auf der Leugner-Website CODOH findet man in einem Artikel über den Rapper Bobby Ray Simmons (B.o.B) und seinen Songtext, in dem er David Irving zustimmend erwähnt, lediglich den lapidaren Hinweis:

After perusing the lyrics, Irving said that he agreed with B.o.B.'s assessment that Stalin was worse than Hitler. "I think that Stalin is credited with 35,000,000 nicks on his bedpost, Hitler only 6,000,0000."

[Nach Durchsicht des Textes sagte Irving, er stimme mit B.o.Bs Einschätzung überein, dass Stalin schlimmer gewesen sei als Hitler. "Ich glaube, Stalin werden 35.000.000 Kerben im Bettpfosten zugeschrieben, Hitler dagegen nur 6000000."

Belege für Stalins Massenmorde habe ich bei CODOH vergeblich gesucht; auch Irving hat auf seiner eigenen Website nicht viel dazu anzubieten.

Wenn Stalin auf "revisionistischen" Webseiten vorkommt, dann meist in Zusammenhang mit der (widerlegten) Präventivkriegsthese, die davon ausgeht, Hitler sei mit seinem Überfall auf die Sowjetunion einem Angriff Stalins zuvorgekommen. Stalins Massenmorde werden eher beiläufig erwähnt und kommentarlos als Tatsache akzeptiert.

Das passt nicht recht zu den Ansprüchen, die Germar Rudolf und seine Mitstreiter bei anderer Gelegenheit stellen. Als er wegen Holocaustleugnung vor Gericht stand, bemühte er zu seiner Verteidigung Joachim Hoffmann als sachverständigen Zeugen und Olaf Rose als Gutachter. Olaf Rose hat bei Der Große Wendig als Herausgeber und Autor mitgewirkt. In seinem Gutachten für Rudolf schreibt er:

Unter "Wissenschaftlichkeit" versteht der Chemiker Rudolf: "Ein Ergebnis muss exakt, folgerichtig, von Beweisen gestützt und widerspruchsfrei sein." (...) Diese Kriterien legt Rudolf - soweit möglich - auch an seine historiographischen Arbeiten an. Aussagen, die nicht eindeutig belegt werden, kennzeichnet er als solche und hält Distanz zu ihnen (...) Er weicht von der Maxime, Tatsachenbehauptungen seien durch überprüfbare beziehungsweise nachvollziehbare Beweise zu belegen, nicht ab. Mutmaßungen und Wahrscheinlichkeiten werden stets als solche gekennzeichnet, fehlende Quellenangaben o. ä. machen ein Argument aus seiner Sicht beweisunfähig.

Olaf Rose als Gutachter in: Germar Rudolf
Widerstand ist Pflicht
Einlassung im Strafverfahren 2 KLs 503 Js 17319/01
vor dem Landgericht Mannheim

15. November 2006 bis 29. Januar 2007, S. 304.

Es sei denn, es geht um Stalins Massenmorde. Die sind offenkundig offenkundig.

Also, woher wissen die "Revisionisten" denn nun, dass Stalin ein Massenmörder war?

Auch wenn sie es nie zugeben würden, sie wissen es dank der etablierten Geschichtswissenschaft, der sie in diesem Punkt anscheinend blind vertrauen. Eigene Nachweise für Stalins Massenmorde sind bei den Holocaustleugnern weit und breit nicht zu finden.

Als ein Beispiel von vielen für das, was die seriöse Geschichtsschreibung über Stalins Verbrechen weiß, soll ein Beitrag mit dem Titel Revolution, Stalinismus und Genozid dienen. In den Fußnoten erscheinen zahlreiche renommierte Forscher, als Verfasser wird Norman Naimark (Professor für Osteuropäische Studien an der Stanford University) genannt.

Sagen wir der Einfachheit halber mal, dass die etablierte Geschichtswissenschaft die Morde Stalins und Hitlers annähernd gleich gut nachgewiesen hat. (Tatsächlich ist der Holocaust vermutlich sogar das am besten erforschte historische Ereignis überhaupt, aber sei's drum.)

An dieser Stelle könnte man die Holocaustleugner fragen: Warum, wenn ihr doch angeblich die Wahrheit sucht, habt ihr nicht ebenso große Zweifel an Stalins Massenmorden? Mal ganz zu schweigen von Mao Zedong und einigen anderen Verbrechern, die ebenfalls eine Menge Opfer auf dem Gewissen haben?

Ihr bestreitet immer nur Hitlers Verbrechen, aber niemals die der anderen Massenmörder. Wie kommt das?

Mag ja sein, dass die Holocaustleugner hier Einwände erheben und differenzieren möchten. Nicht wenige behaupten ja implizit oder explizit, jüdische Autoren hätten aus irgendeinem Eigeninteresse heraus die Geschichtsschreibung zum Holocaust manipuliert.

Doch nimmt man diesen absurden Gedanken, so schwer es auch fällt, einen Moment lang ernst, dann ergibt sich sofort ein Widerspruch, denn viele "Revisionisten" behaupten zugleich, der ganze sowjetische Machtapparat sei angeblich von Juden gesteuert worden.

Unterstellt man aber, die Juden hätten zum Nachteil Hitlers die Geschichtsschreibung manipuliert, dann muss man davon ausgehen, dass sie ein ebenso großes Interesse daran gehabt hätten, Stalins Verbrechen zu relativieren. Wenn sie sowieso schon alles gefälscht haben, wäre es kein Problem gewesen, auch gleich noch einen ihrer wichtigsten Handlanger vom Vorwurf der Massenmorde zu befreien. Die Forschung zu Stalins Mordaktionen müsste auf ebenso große Widerstände stoßen wie die Versuche der Holocaustleugner, Hitlers Verbrechen wegzudiskutieren. Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Die seriöse Forschung lastet Stalin die Massenmorde unmissverständlich an, und eine "revisionistische Forschung" (ohnehin ein Widerspruch in sich) gibt es zu diesem Thema nicht.

Auch hier zeigt sich wieder, dass die Argumentation der Holocaustleugner voller innerer Widersprüche und Ungereimtheiten ist.

Wir (die schon erwähnten vernünftigen Leute) haben an dieser Stelle keine Probleme. Stalin und Hitler waren Massenmörder, und beides wissen wir dank der etablierten Geschichtswissenschaft.

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