Waren die Nazis Sozialisten?

Kuehnelt-Leddihn über "den wahren Charakter des Nationalsozialismus"

Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn
Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn

Der Konservative Gesprächskreis Hannover veröffentlichte auf seinen Web-Seiten den Beitrag "Kein Gegensatz, sondern eher Konkurrenzkampf" von Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn, dessen Kernpunkt die These ist, die Nazis seien Linke und die NSDAP sei eine linke Partei gewesen. Der Aufsatz erschien ursprünglich vermutlich in der Ausgabe 10/1997 des Deutschland-Magazin.

Für jemanden, der sich "Seit einem halben Jahrhundert" mit dem Unterschied zwischen Rechts und Links beschäftigt (so Kuehnelt-Leddihn über sich selbst) ist der Beitrag bemerkenswert schlecht recherchiert und dokumentiert. Es handelt sich eher um eine Meinungsäußerung als um eine sachlich fundierte Analyse, und an einigen Punkten lässt sich sogar nachweisen, dass Herr Kuehnelt-Leddihn mit historischen Fakten - teilweise sogar mit seinen eigenen Quellen - ausgesprochen phantasievoll umgegangen ist, um es höflich auszudrücken.

Unter der Zwischenüberschrift "Goebbels sah sich als Repräsentant der politischen Linken" schreibt Kuehnelt-Leddihn beispielsweise:

Erst am 5. Mai 1918 wurde die DAP in "Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei" umbenannt. Ihr Programm war eindeutig links."

Kuehnelt-Leddihn, Kein Gegensatz

Es ist unbestritten, dass die Nazis in der Anfangszeit sozialistische Sprüche verbreitet haben. Das war jedoch reiner Opportunismus, der nur dem Wählerfang diente. Über die sozialistisch anmutenden Punkte des Parteiprogramms schreibt Wolfgang Wippermann:

Doch gerade diese Forderungen, mit denen die Partei ihrem Namen als Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei gerecht geworden wäre, wurden 1928 von Hitler eingeschränkt.

Wolfgang Wippermann in Enzyklopädie, S. 11
(Hervorh. i. Original)

Eine ausführlichere Darstellung der taktischen Erwägungen, aus denen die Nazis sich zeitweise sozialistisch gebärdet haben, ist auf einer Web-Seite zu finden, die sich mit dem "Strasser-Flügel" der NSDAP befasst. Hier soll der Hinweis reichen, dass die Nazis, als sie an der Macht waren und die Möglichkeit dazu hatten, keine Anstalten machten, sozialistische Ideen zu verwirklichen.

Einen weiteren "Beleg" - wenn man es denn so nennen will - für die linke Orientierung der Nazis sieht Kuehnelt-Leddihn offenbar in folgendem Punkt:

Dann kamen bald das Kriegsende und der "Umsturz". Hitler diente in München mit roter Armbinde unter den Kommunisten (siehe J. Fest: Hitler, 1973, S. 122).

Kuehnelt-Leddihn, Kein Gegensatz

Diese Bemerkung suggeriert, Hitler habe auf Seiten der "Roten" beim Aufbau der Münchener Räterepublik mitgewirkt. Das hat Fest in der von Kuehnelt-Leddihn referenzierten Hitler-Biographie allerdings nicht geschrieben. Wenn man dort nachschlägt, findet man die folgende Einschätzung zu Hitlers politischem Standort:

Alles spricht vielmehr dafür, dass sein Verhalten zu jener Zeit eine Mischung aus Verlegenheit, Passivität und opportunistischer Anpassung war. Nicht einmal an den turbulenten Vorgängen der ersten Maitage, als die Truppen des Freikorps Epp zusammen mit anderen Verbänden München entsetzten und die Räteherrschaft stürzten, nahm er in irgendeiner bemerkenswerten Weise teil.

Fest, Hitler, S. 123

Entgegen Kuehnelt-Leddihns Behauptung hat Hitler also gerade nicht auf Seiten der "Roten" gekämpft. Aber wie ist Hitler denn nun zu seiner roten Armbinde gekommen? Joachim C. Fest erklärt das so:

Da er nicht wusste wohin, nahm er wieder Quartier in der Kaserne in Oberwiesenfeld. Vermutlich ist der Entschluss ihm nicht leicht gefallen, denn er nötigte ihn, sich der herrschenden Roten Armee zu unterstellen und deren rote Armbinde anzulegen (...) Kaum etwas unterstreicht deutlicher, wie gering zu diesem Zeitpunkt sein politisches Bewusstsein entwickelt war (...) allen nachträglichen Stilisierungen zum Trotz, war in dieser Phase seine politische Indolenz offenkundig stärker als das Gefühl der Kränkung, ein Soldat im Kommandobereich der Weltrevolution zu sein.

Fest, Hitler, S. 122

Hitler war die Zugehörigkeit zum Militär offenbar wichtiger als alles andere, und so unterwarf er sich trotz seiner Abneigung gegen die Kommunisten den neuen Machthabern. Also müssen wir hier nicht etwa eine Neigung zu linken Ideen, sondern reinen Opportunismus als Beweggrund festhalten.

Damit nicht genug. Als die Räteherrschaft zerschlagen war, stellte Hitler sich sogar den neuen Machthabern zur Verfügung, und

(...) beschaffte Informationen, machte Kameraden ausfindig, die sich dem kommunistischen Räteregime angeschlossen hatten, und erfüllte offenbar im ganzen seinen Auftrag so zufriedenstellend, dass er kurz darauf zu einem Aufklärungskurs für "staatsbürgerliches Denken" kommandiert wurde.

Fest, Hitler, S. 123

Das klingt ganz und gar nicht nach einem Vorkämpfer linker Ideologien, wie Kuehnelt-Leddihn es darstellt, sondern eher nach einem Opportunisten - und nach einem Denunzianten. Wenn überhaupt, dann hat Hitler für die rechten, konservativen und nationalistischen Gegner der Räterepublik aktiv gearbeitet, und nicht etwa für deren Vertreter.

Herr Kuehnelt-Leddihn mag ja anderer Meinung sein und Hitler trotz alledem noch als Sozialisten sehen. Es ist sein gutes Recht, sich mit absurden Behauptungen lächerlich zu machen. Wenn er sich aber auf Joachim C. Fests Hitler-Biographie beruft, dann sollte man in seinen Anmerkungen doch wenigstens das wiederfinden können, was Fest gemeint und geschrieben hat. Das ist leider nicht der Fall. Herr Kuehnelt-Leddihn hat Fests Aussagen verfälscht.

Ein Stück weiter meint Kuehnelt-Leddhin dann:

Ja aber, fragt vielleicht der naive Zeitgenosse, haben die Braunen nicht "dennoch" behauptet, "rechts" zu stehen? Keine Spur! Goebbels erklärte am 6. Dezember 1931 im "Angriff", dass die NSDAP die "deutsche Linke" verkörpere und den "bürgerlichen Nationalismus" verachte. Kann das deutlicher gesagt werden? Was will man mehr?

Kuehnelt-Leddihn, Kein Gegensatz

Die Argumentation des Herrn Kuehnelt-Leddihn bewegt sich hier in etwa auf der Ebene: Die Nazis haben sich Sozialisten genannt, also waren sie Sozialisten. Nun denn - die DDR hat sich demokratisch genannt, also war sie es.

Oder etwa nicht? Sollte Herr Kuehnelt-Leddihn, der diese Worte sicher nicht in jugendlichem Leichtsinn, sondern eher in reiferen Jahren aufgeschrieben hat, nicht erkannt haben, dass nicht überall das drin ist, was außen draufsteht? Tatsächlich entmachtete Hitler den "linken" Parteiflügel um die Strasser-Brüder (vgl. Die Sozialisten verlassen die NSDAP).

Aber sehen wir weiter:

Die NSDAP kämpfte doch gegen den so linken Kommunismus, also war sie sein rechter Feind! Aber man erinnere sich daran, dass bei den Wahlen im November 1932, bei einem Rückgang der braunen Stimmen, die Kommunisten 100 Vertreter in den Reichstag schickten: Viele Nationalsozialisten waren über Nacht zu Internationalsozialisten geworden.

Kuehnelt-Leddihn, Kein Gegensatz

Erstaunlich, was Herr Kuehnelt-Leddihn über die Wählerwanderungen in der Weimarer Republik zu wissen glaubt - und das alles ganz ohne Quellenangabe.

Im Jahr 1932 fanden zwei Wahlgänge statt. Es trifft zu, dass die Nazis in dieser Zeit Stimmen verloren und die KPD Stimmen gewann. Aber darf man daraus schließen, dass die Wähler von den Nazis direkt zu den Kommunisten übergelaufen sind?

Für einige Wähler mag das zutreffen, denn da die Nazis sich eine Weile sozialistisch gaben, ohne es wirklich zu sein, ist denkbar, dass enttäuschte Wähler, die von der KPD abgeworben worden waren, in ihre alte politische Heimat zurückkehrten.

Dies allein ist aber keine hinreichende Erklärung, denn während die Nazis zwei Millionen Stimmen verloren, konnten die Kommunisten nur 700 000 Stimmen hinzugewinnen. Wenn man die Wahlergebnisse von 1932 durchgeht, sieht man, dass auch die erzkonservative, deutschnationale DNVP Stimmen hinzugewann - und zwar etwa 800 000, also sogar noch mehr als die KPD. (Daten nach Michalka, Deutsche Geschichte S. 342).

Wenn man schon so argumentiert wie Herr Kuehnelt-Leddihn, dann könnte man anhand der Zahlen ohne weiteres auch sagen: Viele Nationalsozialisten waren über Nacht zu nationalkonservativen Rechten geworden.

Das verrät Herr Kuehnelt-Leddhin den Lesern aber nicht - denn er will ja gerade die nationalkonservative Rechte aus ihrer intimen Verbundenheit mit dem Hitler-Regime herauslösen, weil er selbst dieser politischen Richtung nahe steht. Dazu sind ihm offenbar auch Methoden recht, die alles andere als redlich sind.

Übrigens haben bei den Wahlgängen im Jahre 1932 auch das katholisch-konservative Zentrum (700 000) und die SPD (700 000) Wähler verloren. Hinzu kommt noch, dass die Wahlbeteiligung insgesamt um 1,4 Millionen Stimmen gesunken ist. Wer da zu welcher Partei gewandert ist oder wessen Anhänger nicht zur Wahl gegangen sind, ist also alles andere als klar. Wenn Herr Kuehnelt-Leddihn derart konkrete Aussagen über Wählerwanderungen macht, die ihm als Stütze seiner Argumentation dienen sollen, dann müsste man eigentlich erwarten können, dass er seine Aussagen mit harten Fakten belegt. Er tut es nicht, und ich wage zu behaupten: Er kann es auch nicht.

Die Behauptung über die angebliche Wählerwanderung ist bei weitem nicht die einzige, die Herr Kuehnelt-Leddihn ohne überprüfbare Angaben in den Raum stellt - und dort, wo er konkrete Angaben macht, zeigt sich mitunter sogar, dass Herr Kuehnelt-Leddihn manipuliert, indem er verfälschend wiedergibt, was z.B. in Fests Hitler-Biographie zu finden ist.

Nachdem Herr Kuehnelt-Leddihn in dieser Manier seine "Beweise" um sich versammelt hat, fällt es ihm natürlich leicht, den großen Schlussakkord anzustimmen:

Nationalismus und Rassismus sind links, Patriotismus ist rechts.

Kuehnelt-Leddihn, Kein Gegensatz

So einfach können Politik und Geschichte sein, wenn man aus Quellen grundsätzlich nur das herausliest, was man in ihnen finden will.

Herr Kuehnelt-Leddihn hat wenig über den "wahren Charakter des Nationalsozialismus" gesagt, aber dafür eine Menge über seinen eigenen.

Quelle:

  1. Erik Ritter von Kuehnelt-Leddihn, Kein Gegensatz, sondern eher Konkurrenzkampf.

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