Ein erfundenes Zitat
Theodor Herzl
Vom 29. bis 31. August 1897 fand in Basel der erste Zionistenkongress statt. Theodor Herzl hielt dort die Eröffnungsrede, in der er seiner Hoffnung Ausdruck gab, eines Tages eine Heimstatt für die Juden der ganzen Welt begründen zu können.
In antisemitischen Publikationen kursiert ein angebliches Zitat aus dieser Rede, das die Machtansprüche des Judentums beweisen soll. Es gibt für das Zitat mehrere Fundstellen in einschlägigen Veröffentlichungen, allerdings keine seriöse Quelle. Meistens wird es in der folgenden Form wiedergegeben:
Sobald ein nichtjüdischer Staat es wagt, uns Juden Widerstand zu leisten, müssen wir in der Lage sein, sein [sic!] Nachbarn zum Kriege gegen ihn zu veranlassen. [...] Als Mittel dazu werden wir die öffentliche Meinung vorschützen. Diese werden wir vorher durch die sogenannte 'achte Großmacht', die Presse in unserem Sinne bearbeiten. Mit ganz wenig Ausnahmen, die überhaupt nicht in Frage kommen, liegt die ganze Presse der Welt in unseren Händen.
Eine Version des "Zitats", die dieser hier recht genau entspricht, erschien 1922 in dem Buch Die Geheimnisse der Weisen von Zion von Gottfried zur Beek (S. 44f) in siebter Auflage. Der Text beruhte auf einer russischen Vorlage von Sergei Alexandrowitsch Nilus, die erste Auflage erschien 1919 und war die erste deutschsprachige Veröffentlichung der Protokolle.
Der Name des Autors ist ein Pseudonym, es handelt sich in Wahrheit um Ludwig Müller von Hausen (1851-1926, eigentlich Louis Eduard Julius Müller), der sich als antisemitischer Autor, Verleger und Agitator hervorgetan hat; er gründete beispielsweise 1912 den antisemitischen "Verband gegen die Überhebung des Judentums", dem unter anderem die NS-Funktionäre Martin Bormann und Alfred Rosenberg angehörten. Später äußerte sich auch Hitler anerkennend über Müllers "Pionierarbeit"[1]. In seinem Buch behauptet Müller ohne jeden Beleg (S. 9), neben dem bekannten Zionistenkongress habe noch eine zweite geheime Veranstaltung stattgefunden, die unter dem Zeichen der Protokolle gestanden habe.
Herzls Eröffnungsrede für den Kongress von 1897 liegt im Wortlaut vor; das angebliche Zitat ist dort aber nicht zu finden. Wie man sich leicht überzeugen kann, war die Rede ohnehin versöhnlich und nicht so kämpferisch, wie das gefälschte Zitat suggeriert. Theodor Herzl erklärte dort, der Zionismus gereiche nicht nur den Juden, sondern auch vielen anderen zum Vorteil, und vom Zionismus gehe keinerlei Gefahr für Dritte aus.
Überall soll man erfahren, was der Zionismus, den man für eine Art von chiliastischem Schrecken ausgab, in Wirklichkeit ist: eine gesittete, gesetzliche, menschenfreundliche Bewegung nach dem alten Ziel der Sehnsucht unseres Volkes.
Überhebliche Töne wie in dem angeblichen Zitat findet man dort nicht. Auch die englische Übersetzung der Rede gibt nichts dergleichen her.
Einen weiteren Hinweis auf die Wendung "die sogenannte 'achte Großmacht'", die Herzl nirgends benutzt hat, findet man in der Schriftenreihe Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte des Münchner Instituts für Zeitgeschichte:
Goebbels selbst schätzte den Rundfunk höher ein als die Presse. "Was die Presse für das 19. Jahrhundert war, das wird der Rundfunk für das 20. Jahrhundert sein", sagte er anläßlich der Eröffnung der Funkausstellung in Berlin am 18. August 1933: "Man könnte, das Wort Napoleons variierend, den Rundfunk die achte Großmacht nennen."
Napoleon, an den Goebbels sich anlehnt, bezeichnete die Presse als die "siebte Großmacht". Die "achte Großmacht" nach Goebbels (der Rundfunk) hat 1897, als Herzl in Basel sprach, in dieser Form allerdings noch nicht existiert.
Alle Fundstellen für die "achte Großmacht", die ich entdecken kann, verweisen entweder auf antisemitische Websites mit dem gefälschten Herzl-Zitat oder auf die oben erwähnte Äußerung von Goebbels. Bei manchen Autoren wird das Zitat in abgewandelter Form nicht mit Herzl, sondern direkt mit den ebenfalls gefälschten "Protokollen der Weisen von Zion" in Verbindung gebracht. Wahrscheinlich hat Müller, auch wenn er nicht als Urheber genannt wird, mit seiner Veröffentlichung von 1919 die Grundlage geschaffen, auf der die späteren Äußerungen beruhen.