Rechtsextreme Zerrbilder
"Holocaust aus dem Lehrplan gestrichen"
Eine rechtsextremistische Twitter-Benutzerin griff 2021 dankbar auf, was der SPIEGEL 2007 (!) in einer Überschrift verkündet hatte: Großbritannien: Holocaust aus dem Lehrplan gestrichen.
Um Missverständnissen vorzubeugen und eines gleich vorwegzunehmen: Es ist nicht hinnehmbar, dass auch nur ein Lehrer vor den religiösen Bedenken irgendeiner Gruppe einknickt und aus Angst den Lehrplan ändert. In Bildung und Lehre müssen wissenschaftliche Erkenntnisse im Mittelpunkt stehen. Eine Einflussnahme religiös motivierter Eiferer auf den Lehrplan darf es nicht geben, egal von welcher Seite - weder in den USA, wo christliche Fundamentalisten die biblische Schöpfungsgeschichte als gleichwertige Deutung neben die wissenschaftlich fundierte Evolutionslehre stellen möchten, noch in Großbritannien, wo der Holocaust mit Rücksicht auf Muslime - angeblich - vom Lehrplan gestrichen worden sei.
Der Kommentar der Twitter-Userin - "Wenn Muslime den Holocaust doch gar nicht leugnen, warum muss man ihn dann wegen ihnen aus dem Lehrplan streichen?" - bezieht sich aber offenbar nur auf die Überschrift und ist irreführend. Schon im begleitenden Text des SPIEGEL-Artikels relativiert sich die Angelegenheit. Dort heißt es einschränkend:
Aus Angst, Muslime in ihrem Glauben zu beleidigen, haben britische Geschichtslehrer den Holocaust aus ihrem Unterricht verbannt. Einer Regierungsstudie zufolge vermeiden die Lehrer das Thema, um bei Muslimen keine antisemitischen Reaktionen hervorzurufen.
Der Holocaust wurde demnach keineswegs generell mit einer Anweisung von oben vom Lehrplan gestrichen, sondern es gab Lehrer, die von sich aus beschlossen haben, dieses Thema zu meiden. Auch das ist, wie schon gesagt, schlimm genug - doch der dramatische erste Eindruck der Überschrift, den die Islamhasser freudig aufgegriffen haben, wird bereits hier wieder zurückgenommen.
Hintergrund: Bericht in der Daily Mail
Die Grundlage dieser Meldung ist offenbar eine Studie, über welche die britische Zeitung Daily Mail berichtete. Auch die Daily Mail beschrieb die Vorgänge damals erheblich unaufgeregter, als es die Islamhasser heute darstellen. Dort heißt es ausdrücklich, "some teachers" (einige Lehrer) mieden dieses Thema im Unterricht, um keine antisemitischen Reaktionen ihrer muslimischen Schüler zu provozieren, und eine(!) Schule, die in der Studie allerdings nicht genannt werde, hätte das Thema von ihrem Lehrplan gestrichen.
In einem anderen Schulbezirk sei der Holocaust hingegen trotz antisemitischer Ressentiments mancher Schüler auf dem Lehrplan geblieben. An einer dritten Schule wiederum hätten sich christliche Eltern beschwert, weil der israelisch-arabische Konflikt nicht so behandelt werde, wie es den Lehren ihrer Glaubensgemeinschaft entspreche.
Korrekte Darstellung im SPIEGEL
Der SPIEGEL gibt zutreffend, aber nicht ganz vollständig wieder, was die Daily Mail schrieb, und betont mehrfach, "einige Geschichtslehrer" hätten dieses Thema gemieden, um abschließend einen britischen Regierungsberater zu zitieren:
"Das darf nicht sein. Kinder sollten Zugang zu dem Wissen über solche kontroversen Themen haben, egal, ob es wohlschmeckend ist, oder nicht", sagte Chris McGovern, Berater für Geschichtserziehung der ehemaligen Tory-Regierung.
Verkürzungen und Verfälschungen
Noch einmal kurz zusammengefasst:
Der SPIEGEL selbst nimmt im Text wieder zurück, was seine Überschrift anzudeuten scheint. Der Holocaust wurde keineswegs völlig vom Lehrplan gestrichen, sondern es ging immer nur um "einige" Lehrer, die Bedenken hatten.
Im SPIEGEL und bei den Islamhassern fällt weg, dass es auch eine Einflussnahme christlicher Eltern auf den Geschichtsunterricht gab.
Ein Berater der britischen Regierung hat sich entschieden gegen jede ideologisch gefärbte Einflussnahme auf den Geschichtsunterricht ausgesprochen.
Islamhasser greifen den vierzehn Jahre alten Artikel auf und beziehen sich auf die Überschrift, als sei der Beitrag aktuell, wobei sie den Inhalt und die Hintergründe ignorieren.
Der reale Hintergrund (die Angst mancher Lehrer) ist unschön genug, doch die Sache gibt bei Weitem nicht das her, was Islamhasser daraus machen wollen. Wir wissen nicht, ob sich im Laufe von vierzehn Jahren die Situation verschlechtert oder verbessert hat, und wir wissen nicht, welche Maßnahmen die Regierungen und Behörden seitdem ergriffen haben.
Gefundenes Fressen, leicht überlagert
Dieser Artikel ist ein willkommener Anlass für alle Islamhasser, und er ist ein Baustein in einer Entwicklung, die schon seit einiger Zeit zu beobachten ist: Vielfach leugnen Rechtsextremisten nicht mehr wie früher offen oder verdeckt den Holocaust, sondern akzeptieren ihn scheinbar als Tatsache, geben vor, das Judentum zu verteidigen und werben um Rückhalt in der Bevölkerung, wenn sie die Opfer antisemitischer Angriffe missbrauchen, um ihre islamfeindliche Agitation zu verbreiten.
Wie unehrlich dies ist, zeigt sich in anderen Beiträgen der Twitter-Benutzerin. Bei anderer Gelegenheit schreibt die aufrechte Verteidigerin des Holocaust nämlich über die Geschichtswissenschaft:
Ich habe es nicht nötig mich hinter "wissenschaftlichen" Werken zu verstecken. Ich kann selber denken.
Ich schreibe Geschichtswissenschaft in Anführungszeichen da die "geschichtswissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse" immer so gewählt werden, dass sie unsere Machthabern nutzen.
Nein, ich verstecke mich nicht hinter Propaganda, die sich als Wissenschaft ausgibt.
Ich setze Geschichtswissenschaft in Anführungszeichen, weil unter dieser Bezeichnung an unseren Universitäten vor allem Staatspropagandisten ausgebildet werden, die lernen, den Holocaust zu instrumentalisieren, um den Schuldkult der Deutschen zu pflegen.
Diese Argumentationsweise kommt dem, was man sonst von "Revisionisten" hört, bedenklich nahe. Es scheint, als verteidigte die Verfasserin hier eine Geschichtswissenschaft, der sie nach eigenem Bekunden in Wirklichkeit kein Wort glauben will.
Das scheinheilige Eintreten für die Wissenschaft dient so als billiger Vorwand, um den Islam und seine Anhänger pauschal anzugreifen und zu diskreditieren.
Tatsächlich unterscheidet sich die Wissenschaftsfeindlichkeit der Angreiferin in keiner Weise von dem Zerrbild, das sie angreift.