Die "Erledigung der Rest-Tschechei"

Eine Chronologie

28.03.1938

Konrad Henlein, der Führer der Sudetendeutschen, kommt nach Berlin, und Hitler gibt ihm eine Anweisung:

Henlein hat dem Führer gegenüber seine Auffassung folgendermaßen zusammengefasst: Wir müssen also immer so viel fordern, daß wir nicht zufriedengestellt werden können. Diese Auffassung bejahte der Führer.

(Freund, Dokumente, Band 1, S. 21)

Die überzogenen Forderungen sollen zur Destabilisierung der Tschechoslowakei beitragen.

22.04.1938

Die erste Version der "Studie Grün". Hitler plant die Zerschlagung und die innere Zersetzung der Tschechoslowakei. Ein von Deutschland inszenierter Zwischenfall wie die Ermordung eines deutschen Diplomaten könnte hierbei nützlich sein.

24.04.1938

Die Sudetendeutsche Partei in der Tschechoslowakei verkündet unter Führung von Konrad Henlein ihr "Karlsbader Programm". Das Programm fordert die volle Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und "zur deutschen Weltanschauung". Der deutsche Teilstaat hätte demnach das Recht gehabt, ein nationalsozialistischer Staat zu werden. Dies hätte innerhalb einer ansonsten demokratisch regierten Tschechoslowakei zu unüberwindlichen Spannungen geführt. Die tschechoslowakische Regierung lehnt das Programm ab.

20.05.1938

Hitler erlässt die "Weisung Grün", eine Fortentwicklung der "Studie Grün". Ein Militärschlag scheint nicht unbedingt sinnvoll,

es sei denn, daß eine unabwendbare Entwicklung der politischen Verhältnisse innerhalb der Tschechoslowakei dazu zwingt oder die politischen Ereignisse in Europa eine besonders günstige und vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit dazu schaffen.

Auch hier klingt an, dass Hitler die Gelegenheit zum Eingreifen möglicherweise selbst provozieren will.

30.05.1938

Eine neuerliche "Studie Grün", in der Hitler noch deutlicher wird: "Es ist mein unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen." Gleichzeitig wird das Bedürfnis nach einer Rechtfertigung und einem passenden Anlass herausgestellt.

18.06.1938/07.07.1938

Die bisherigen Überlegungen münden in eine Weisung an den Generalstab, wie der Krieg gegen die Tschechoslowakei zu führen ist.

Juni 1938

Weizsäcker, der Staatssekretär im Auswärtigen Amt: Die Zersetzung der Tschechoslowakei müsse schrittweise "über Volksabstimmung und Gebietsabtrennung zum Kräfteverfall des Restgebietes führen". Deutschlands Vorarbeit hierzu sei auf jeden Fall nützlich, "gleichgültig, ob der chemische Auflösungsprozess des tschechoslowakischen Staatsgebildes schließlich doch noch durch mechanisches Zutun gefördert werden kann oder nicht". Damit sei jedenfalls "das Schicksal der eigentlichen Rumpf-Tschechei" besiegelt. (Freund, Dokumente (1), S. 59ff)

10.09.1938

Hitler erörtert mit Keitel (Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Halder (Generalstabschef) und Brauchitsch (Oberbefehlshaber des Heeres) taktische Einzelheiten des Feldzuges gegen die Tschechoslowakei. Das Ausweichen der tschechischen Armee müsse verhindert werden, es sei eine schnelle Entscheidung herbeizuführen. Ein Zangenangriff durch die 2. und 14. Armee wird diskutiert. Olmütz könne am zweiten Tag erreicht werden. Böhmen sei an der Grenze nur schwach besetzt, "Operation daher erfolgversprechend". Hitler ergänzt und modifiziert die Vorschläge seiner Generäle durch weitere konkrete Anweisungen für die Kriegsführung. (Freund, Dokumente, S. 111ff)

12.09.1938

Hitler hält auf dem Reichsparteitag eine aggressive Rede, in der er verschiedene Vorwürfe gegen die Tschechoslowakei erhebt und ankündigt, es werde "so oder so" zu einer Lösung kommen. Kurze Zeit später beginnen die Sudetendeutschen einen Aufstand. (Domarus, Reden, S. 797ff)

13.09.1938

Der britische Premierminister Neville Chamberlain bittet Hitler darum, ihn aufsuchen zu dürfen, um über eine friedliche Lösung zu verhandeln.

15.09.1938

Konrad Henlein, der Führer der Sudetendeutschen Partei, schreibt Hitler, er habe der englischen Delegation mitgeteilt, dass es nun nicht mehr um das Karlsbader Programm gehe, in das die tschechische Regierung weitgehend eingewilligt hatte, sondern nur noch um "die Durchführung des Anschlusses an das Reich". Henlein schlägt Hitler vor, die sofortige Abtretung des Sudetenlandes zu verlangen und das Gebiet binnen vierundzwanzig Stunden militärisch zu besetzen.

Chamberlain fliegt nach Deutschland und trifft Hitler auf dem Obersalzberg. Der britische Premierminster zeigt sich kompromissbereit, wie es der von ihm verfolgten Appeasement-Politik entsprach, wünscht aber einen verbindlichen Ausschluss von Gewaltanwendung. Hitler ist wenig entgegenkommend, bis Chamberlain schließlich ausruft:

Wenn Sie entschlossen sind, Gewalt anzuwenden, ohne eine Diskussion abzuwarten, warum haben Sie mich dann überhaupt erst kommen lassen?

Domarus, Band 2, S. 909

Daraufhin lenkt Hitler etwas ein. Chamberlain nimmt Hitler das Versprechen ab, vorerst keine Gewalt anzuwenden und weitere Verhandlungen zu führen. Nach der Rückreise erklärt Chamberlain, es sei eine offene, freundschaftliche Aussprache gewesen. Hitler erinnert in einem Interview mit der "Daily Mail" an die ungarischen und polnischen Ansprüche an die Tschechoslowakei (Domarus, S. 910f) und erwähnt das "Hassgefühl der tschechischen Regierung gegen Herrn Henlein".

16.09.1938

Die tschechische Regierung erklärt Henlein zum Hochverräter. Sein Aufruf "Heim ins Reich" kann nach geltendem Recht tatsächlich so beurteilt werden. Konrad Henlein und andere Anführer der Sudetendeutschen Partei fliehen nach Deutschland, der Aufstand bricht zusammen. (Freund, Dokumente 1, S. 144)

18.09.1938

England und Frankreich fordern die tschechische Regierung auf, das Sudetenland an Deutschland abzutreten und erklären sich bereit, im Gegenzug eine Garantie der neuen Grenzen gegen unprovozierte Angriffe zu gewähren.

21.09.1938

Prag willigt unter Druck in die Teilung ein und gibt der Hoffnung Ausdruck, die "Lebensinteressen der Tschechoslowakischen Republik" würden gewahrt bleiben.

Wie von Hitler erhofft, meldet Polen ebenfalls Gebietsansprüche an.

Hitler setzt Ungarn unter Druck, seinerseits ein Teilgebiet der Tschechoslowakei zu beanspruchen: "Es sei jetzt der letzte Moment für Ungarn gekommen, sich einzuschalten, da er sonst nicht in der Lage sein werde, für die ungarischen Interessen einzutreten. Seiner Auffassung nach wäre es das beste, die Tschechoslowakei zu zerschlagen."

22.-24.09.1938

Hitler und Chamberlain treffen sich erneut, dieses Mal in Godesberg. Hitler legt Chamberlain ein Memorandum vor, das ultimativ die sofortige Überlassung des Sudetenlandes fordert, andernfalls werde er das Land am 1. Oktober 1939 besetzen. Das Gebiet müsse ohne Veränderungen, also einschließlich intakter militärischer Anlagen, mit Fluglätzen, Funkanlagen und so weiter übergeben werden. Auch der Abtransport von Lebensmitteln, Gütern, Vieh, Rohstoffen und so weiter habe zu unterbleiben (Freund, Band 1, S. 190ff).

Chamberlain erklärt, er werde dies weitergeben, aber ohne Druck auszuüben. Bereits die Annahme der Vorschläge vom 18.09.1938 sei unter Druck auf die tschechische Regierung erfolgt. Nevile Henderson, der britische Botschafter in Berlin, kommentiert die Vorgänge in Godesberg:

Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass dort Hitler den ersten großen politischen Fehler begangen hat. Er hat den britischen Premierminister geprellt und, indem er ihn hereinlegte, den Weg geebnet für den Umschwung der Stimmung Englands gegenüber dem Hitlerismus und seinen Methoden, einen Umschwung, der nach der Besetzung Prags 1939 ein völliger werden sollte.

Freund, a.a.O.
26.09.1938

Adolf Hitler garantiert in einer Rede im Sportpalast die Existenz der Rest-Tschechei nach Abtretung des Sudetenlandes: "Wir wollen gar keine Tschechen!"

27.09.1938

Hitler bezieht sich in einem Brief an Chamberlain auf seine Rede im Sportpalast vom 26.09.1938 und bekräftigt, er lehne jeden Zugriff auf das tschechische Gebiet ab und werde nach Angliederung des Sudetenlandes sogar eine Garantie für die Weiterexistenz der Tschechoslowakei geben.

29/30.09.1938

Das Münchener Abkommen wird geschlossen. Die Tschechoslowakei muss das Sudetenland an Deutschland abtreten, ein Zusatzabkommen soll wie verabredet die Weiterexistenz der Tschechoslowakei garantieren.

01.10.1938

Polen besetzt das Gebiet um Teschen.

21.10.1938

Hitler gibt die Weisung zur "Erledigung der Rest-Tschechei".

02.11.1938

Der Wiener Schiedsspruch spricht Ungarn einen Teil der Rest-Tschechei zu. England und Frankreich überlassen die Vermittlung den Achsenmächten Deutschland und Italien.

17.12.1938

Nachtrag zur Weisung vom 21.10.1938. Die Erledigung der Rest-Tschechei müsse in der Weise erfolgen, dass es sich nur um eine Befriedungsaktion und nicht um eine kriegerische Unternehmung handelt. (Freund, Dokumente 1, S. 313)

21.12.1938

Der französische Botschafter erinnert daran, dass die in München verabredete Garantie für die Rest-Tschechei noch nicht wirksam festgelegt sei. Der Staatssekretär von Weizsäcker antwortet, "die Tschechoslowakei gehöre ausgesprochen zu denjenigen Gebieten, welche, wie schon erwähnt, als deutsche Domäne betrachtet werden müßten." Ausschließlich eine deutsche Garantie habe für Prag irgendeine Bedeutung. (Freund, Dokumente 1, S. 312)

22.02.1939

Die tschechoslowakische Regierung erinnert an die Garantiezusage, die laut Zusatz zum Münchner Abkommen verbindlich fixiert werden sollte. Prag bietet zur Erleichterung an, eine feierliche Neutralitätserklärung abzugeben. (Freund, Band 1, S. 428)

28.02.1939

England und Frankreich unternehmen einen Vorstoß, die Garantie für die Weiterexistenz der Rest-Tschechei förmlich zu erklären. Deutschland lehnt unter Verweis auf tschechoslowakische Differenzen mit Ungarn und Polen ab. Vorzeitig abgegebene Garantien könnten zu einer Verschärfung der Konflikte führen. Die Garantie durch England und Frankreich könne gar "der Stärkung unvernünftiger Tendenzen" dienen. (Freund, Band 1, S. 431) So entsteht ein Teufelskreis: Das Fehlen der Garantie erzeugt Unsicherheit, und die Unsicherheit ist ein Vorwand für das Deutsche Reich, die Garantie nicht zu erteilen.

01.03.1939

Die Tschechoslowakei unternimmt einen weiteren Vorstoß, um Sicherheit zu erlangen, bietet Zugeständnisse an und fragt, welche Wünsche das Reich habe. Das Deutsche Reich schweigt. (Freund, Band 1, S. 432f)

11.03.1939

Hitlers Generalstab legt einen Entwurf für die militärischen Bedingungen eines Ultimatums an die tschechoslowakische Regierung vor (Freund, Band 1, S. 436).

13.03.1939

Hitler empfängt Tiso, den gerade abgesetzten Ministerpräsidenten des slowakischen Landesteils, und setzt ihn unter Druck, die Slowakei aus der Tschechoslowakei zu lösen. (Freund, Weltgeschichte in Dokumenten, S. 438)

14.03.1939

Die Slowakei erklärt ihre Unabhängigkeit und stellt sich als Vasallenstaat unter den Schutz Deutschlands, Tiso wird Ministerpräsident.

Der tschechoslowakische Präsident Hacha kommt nach Berlin. Hitler droht ihm, die "Rest-Tschechei" anzugreifen, Göring droht mit der Bombardierung Prags. Dararaufhin willigt Hacha ein, sein Land "vertrauensvoll" besetzen zu lassen.

16.03.1939

Das Protektorat Böhmen und Mähren wird eingerichtet, Hacha als Präsident eingesetzt.

18.03.1939

Chamberlain protestiert gegen die Besetzung, Frankreich schließt sich den Protesten an. Die Reichsregierung weigert sich, die Protestnoten entgegenzunehmen, "da dies jeder politischen, rechtlichen und moralischen Grundlage entbehre." (Freund, Dokumente, Band 2, S. 31)

22.08.1939

Hitler während einer Besprechung mit den militärischen Befehlshabern auf dem Obersalzberg:

Die Gegner haben nicht mit meiner großen Entschlußkraft gerechnet. Unsere Gegner sind kleine Würmchen. Ich sah sie in München.


Prag im März 1939
Prag im März 1939

"Die Wehrmacht wurde mit Blumen empfangen."
Ein "Revisionist" über die Zerschlagung der Tschechei.
Pressburg im März 1939
Pressburg im März 1939

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